Das Aikido- Prinzip in der Psychotherapie

von Ralf Savelsberg

AIKIDO ist ein in Japan von MORIHEI UYESHIBA begründeter Weg der körperlichen und geistigen Schulung zur Selbsterweiterung des Menschen.
Morihei Uyeshiba (1883-1969) stammte aus einer angesehenen Samurai-Familie,
erlernte die verschiedenen klassischen Kampfkünste Japans und erforschte deren Grundprinzipien.
Dabei erkannte er, dass in allen Kampfsportarten eine künstliche Polarität zwischen Menschen erzeugt wird, die auf Gewalt und Gegengewalt beruht.
Diese Grundkonstellation, so Uyeshiba, fördert Aggression und führt zur Eskalation von Gewalt.
Aus dieser Erkenntnis heraus formte er ein neues System einer kodierten Körpersprache und Körperdynamik zur Entwicklung und Regeneration geistig – seelischer und körperlicher Kräfte.
Eine tief empfundene Harmonie mit der Natur und dem Kosmos und ein Respekt vor allem Lebendigen bilden die Basis des AIKIDO.
Entgegen der oben beschriebenen Haltung in den Kampfsportarten, durch Kampf und Gewalt einen Sieg zu erreichen, geht es im AIKIDO um das harmonische Vereinen gegensätzlicher Kräfte.

AIKIDO heißt übersetzt:

AI Harmonie, Einheit, Liebe
KI geistige Urkraft, kosmische Energie, Fluidum
DO Weg

Uyeshiba beschreibt die Bedeutung des AIKIDO mit folgenden Worten:

AIKI ist keine Technik, um den Feind zu bekämpfen oder zu besiegen;
es ist der Weg, die Welt zu versöhnen und aus den Menschen eine Familie zu machen.
Das Geheimnis des AIKIDO ist es, sich mit den Bewegungen des Universums in Einklang zu bringen
und mit ihm zu harmonisieren.

Um Kräfte zu vereinen, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen, werden im AIKIDO kreis – und spiralförmige Bewegungen geübt.
Diese spielerisch wirkenden, geschmeidigen Bewegungsabläufe bewirken nicht nur eine Kräftigung des Körpers, sondern auch Bewusstheit und Klarheit im Verhalten.
Einfachheit, Natürlichkeit und Friedfertigkeit sind hierbei wesentliche Bestandteile.

Die nachfolgenden Ausführungen haben die Absicht, anhand von AIKIDO – Grundzügen,
wesentliche Aspekte der Beziehungsgestaltung zwischen TherapeutIn (s. Psychotherapie) und KlientIn zu beschreiben.
(T steht für TherapeutIn, K steht für KlientIn)

Die Persönlichkeit von T 

Der Aikidoka agiert aus der Mitte heraus.
Die stabile Ausgangsposition ermöglicht ihm den effektiven Einsatz seiner Kräfte zur Lösung der mit dem Leben verbundenen Aufgaben.

Es ist eine Grundvoraussetzung für Menschen, die mit anderen Menschen therapeutisch arbeiten,
dass sie sich in einem permanenten Prozess der Selbsterfahrung und Selbstreflektion befinden.
Das ist keineswegs eine übliche Sichtweise. Vor einigen Jahren verkündete ein Psychologie – Professor mit Stolz, dass er vor 30 Jahren Selbsterfahrung gemacht und deshalb ein Hinterfragen seiner Person oder seines Tuns nicht nötig hat.

Der permanente Prozess der Selbsterfahrung bedeutet natürlich in erster Linie, mit sich selbst im Sinne einer körperlich-geistig-emotionalen Gesunderhaltung bzw. Gesundung in Übung zu bleiben.
Körperliche und geistig – emotionale Beweglichkeit bilden sozusagen den Nährboden, auf dem gesunde Beziehungen zu anderen Menschen und ein gesunder Kontakt zu sich selbst im Innern gedeihen können.
Wie soll ein T, die/der die Signale des eigenen Körpers ignoriert, die körpersprachlichen Botschaften von K wahrnehmen und sie als kodierte Aussage innerer Konstellationen verstehen ?
Wie soll ein T, die/der die eigenen Beziehungen (Ehe, Partnerschaft, Familie …) ungeklärt lässt,
einem K auf kongruente Weise Unterstützung geben, wenn es um Paar- und Familienthemen geht ?
Wie soll ein T, die/der mit sich selbst im Unreinen ist, einem K Hilfestellung geben bei der Lösung von Konflikten ?

Sich seiner selbst bewusst zu sein, eigene Fähigkeiten und Kompetenzen realistisch einzuschätzen, mit sich selbst liebevoll, wachsam und wertschätzend umzugehen, gut für sich selbst zu sorgen, eine wohltuende Haltung einzunehmen …
das sind wichtige Vorab – Bedingungen, um einen wertschätzenden Kontakt zu anderen Menschen,
innerhalb und ausserhalb von therapeutischen Settings, aufzubauen.

Beziehungsgestaltung 

Wer immer auf den Boden schaut, kann nicht die Sterne sehen

Die Annahme, dass es eine objektive Wirklichkeit gibt, hat sich in den letzten Jahrzehnten philosophisch und naturwissenschaftlich als nicht haltbar erwiesen.
Zahlreiche Untersuchungen, auch in der Hirnforschung, legen den Schluss nahe, dass wir es, wenn es um Wahrnehmung der Wirklichkeit geht, mit ganz persönlichen Konstruktionen von Realität zu tun haben.
In sozialen Kontexten ist es gerade die persönliche Bewertung und Bedeutungsgebung von
Ereignissen oder Erlebnissen, die eine subjektive Wirklichkeit schafft. (sozialer Konstruktivismus)

Schon bei Epiktet heißt es:

Erfahrung ist nicht das, was mit einem Menschen geschieht.
Sie ist das, was ein Mensch aus dem macht, was mit ihm geschieht,
und wie er das Geschehene bewertet.

Heinz von Förster, ehemals Professor für Informatik, Biophysik, Physiologie formuliert die Grundzüge des sozialen Konstruktivismus folgendermaßen:

Es ist doch ein unglaubliches Wunder, das hier stattfindet.
Wenn man nur für einen Moment sagt:
Das bist du, der diese Sicht der Welt produziert, das ist nicht draußen, das ist nicht irgendeine sogenannte objektive Wirklichkeit, auf die man sich beziehen kann.
Man kann nicht mehr andere verantwortlich machen für das, was man sieht, denn man ist ja selbst derjenige, der diese Sicht konstruiert.
Die Menschen erhalten ihre Verantwortung in größtmöglichem Maße wieder zurück, können sie nicht an irgendeine übergeordnete Instanz oder irgendwelche äußeren Umstände abschieben. Sie werden Beteiligte.

Paul Watzlawick, Professor für Psychiatrie und Lehrbeauftragter für Psychotherapie, formuliert folgendermaßen:

Wir leben in einer imaginären Wirklichkeit.

Ruth Cohn, die Begründerin der TZI (Themenzentrierte Interaktion), antwortet in einem Interview auf die Frage, was wohl die wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer jahrzehntelangen therapeutischen Arbeit seien, mit den folgenden 3 Sätzen:

Alle Menschen sind gleich
Alle Menschen sind verschieden
Alle Menschen sind gleich und verschieden

Geht man davon aus, dass sich im therapeutischen Kontext Themen wiederholen, – einfach, weil es menschliche Themen sind -, so ist doch die Ausprägung der Themen eine ganz persönliche.

Individuelle biographische Komponenten mögen ihren Teil dazu beitragen, dass gegenwärtige Erfahrungen auf besondere (persönliche) Weise interpretiert werden.

Alfred Korzybski, ein Psychologe und „Neurolinguist“ hat zu Beginn des letzten Jahrhunderts die These aufgestellt, dass Menschen durch die Ansammlung von Erfahrungswerten (und der jeweiligen Bedeutungsgebung) „innere Landkarten“ anlegen, mit Hilfe derer sie in der äußeren Welt Orientierung finden.
Sein Satz Die Landkarte ist nicht das Gebiet unterscheidet die äußere Welt von dem, was Menschen innerlich daraus machen. Weiterhin formuliert er sinngemäß:
Menschen reagieren nicht unmittelbar auf die äußere Welt, sondern auf die inneren Landkarten.

Subjektive Wirklichkeiten – also das, was bei einem Menschen ganz persönlich wirkt -, beinhalten Aspekte der Wahrnehmung und Muster des Denkens, Fühlens und Verhaltens.
Wesentliche Aspekte der Beziehungsgestaltung im therapeutischen Kontext sind

  • die wertschätzende Aufmerksamkeit für K
  • Offenheit und Wachsamkeit für die persönlichen Realitätskonstruktionen

In vielen therapeutischen Verfahren gibt es rigide Vorgehensweisen, die auf eine ebenso rigide Kategorisierung von menschlichem Verhalten zurückgreifen.
Eine vermeintlich symptombezogene Sicht lässt die Individualität und die Persönlichkeit von K oftmals außer acht.

Eine Geschäftsfrau, deren Firma Konkurs anmelden musste, leidet unter der Situation.
Sie schildert ihrem Hausarzt die Lage und klagt über Schlafstörungen.
Der Hausarzt überweist sie an einen Psychoanalytiker. In der ersten Therapiestunde bekommt die Klientin einen Fragebogen, für dessen Beantwortung sie 40 min braucht. Die Frau soll in dem Bogen eintragen, wann sie zum ersten Mal ihre Regel hatte, wann sie zum ersten Mal einen Mann geküsst hat,
wann sie das erste Mal Geschlechts- verkehr hatte usw. Nach dieser ersten Sitzung, die damit endet, dass der Analytiker der Klientin beim Überfliegen der Antworten im Fragebogen sagt, dass man in der Therapie wohl weit in die Kindheit zurückgehen müsste, weiß er nichts über die Beweggründe der Frau, in Therapie zu kommen, nichts über deren Leiden, nichts über ihre Hoffnungen usw.

Solche standartisierten Verfahren gehen an den Bedürfnissen der Menschen vorbei und missachten die Persönlichkeit der Klienten.

In modernen „konstruktivistischen“ Therapieverfahren weiß man um die Wichtigkeit des grundlegenden Respekts und der Wertschätzung der Klienten in ihrer Individualität.
Man geht davon aus, dass ein „Pacing“, ein Angleichen an die subjektiven Realitätskonstruktionen der Klienten notwendig ist, um einen sinnvollen, gemeinsamen Prozess zu initiieren.
Und somit bin ich auch wieder beim Weg des Aiki angekommen.

Durch die Vereinigung von Kräften in einer fließenden Bewegung
entsteht ein harmonisches Miteinander.

Es ist wie ein gemeinsamer Tanz, der von T Wachsamkeit, Flexibilität und eine neugierige „Forscherhaltung“ verlangt, um die Botschaften und Impulse von K aufzunehmen und entsprechend dem therapeutischen Auftrag in eine gewünschte Richtung hin gemeinsam entwickeln zu können. Ein wohltuendes „Eigenpacing“, wie es im ersten Abschnitt beschrieben wurde, ist hier selbstverständlich vorausgesetzt.

Die Einstellung des Menschen offenbart sich in seiner Haltung

Vor einigen Jahrzehnten wurde von Milton Erickson der Begriff „Utilisation“ geprägt.
Damit ist gemeint: ein zieldienliches Nutzbarmachen von für den therapeutischen Prozess hilfreichen Aspekten aus dem subjektiven Modell der Welt des Klienten.

Jeff Zeig, der Vorsitzende der Milton Erickson Foundation, beschreibt das Prinzip der Utilisation als eine Philosophie der Effizienz.
Jeff Zeig in einem seiner Seminare:

Utilisation

  • macht die Therapie experimentell, erfinderisch
  • erhält sie frisch
  • gibt Energie
  • ist die Grundlage für Lösungen
  • macht Spaß
  • hält T jung
  • führt zu Assoziationen

Utilisation bezieht sich auf die

  • verbalen Botschaften von K
    (Sinnespräferenzen in der Sprache, Schlüsselbegriffe, Überzeugungen,
    hypnotische Sprachmuster im Sinne von wirkungsvollen Selbstsuggestionen)
  • nonverbalen Botschaften von K
    (Bewegung, Körperhaltung, Gestik, Mimik usw., im Sinne von ideomotorischen Signalen,
    die als spezifische Codierung von innerem Erleben fungieren)
  • gegenwärtigen Denk- und Fühlmuster
  • Stärken, Erfolgserlebnisse, Sternstunden
  • Fähigkeiten, Qualitäten und Werte
  • Selbstbilder
  • Erfahrungen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit
  • systemische Dynamik, in der K erlebt und agiert.

K wird im therapeutischen Prozess dort respektvoll abgeholt, wo er/sie sich gerade befindet.
Dabei spielt die Wachsamkeit von T eine große Rolle, die oben genannten Signale von K als stimmigen Ausdruck des gegenwärtigen Zustands wahrzunehmen.

Im Aikido wird im besonderen die kinästhetische und die visuelle Aufmerksamkeit geschult, damit die Energie des Übungspartners aufgenommen und weitergeführt werden kann.

Im Therapiekontext ist der Fokus der Aufmerksamkeit im weiteren Verlauf auf die Kompetenzen und Ressourcen von K gerichtet, die letztendlich die Grundlage für ein Lösungserleben bieten.

Im Rahmen eines dynamisch fliessenden, gemeinsamen Prozesses geht es immer wieder um ein feinfühliges Wahrnehmen von veränderungsstimulierenden und kompetenzstabilisierenden Aspekten und um die Fähigkeit des Innehaltens, wenn Erkenntnisse gewonnen und eine Vertiefung des gewünschten Erlebens erreicht werden.

Es wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch viele Möglichkeiten der Lebensgestaltung
gelernt hat und ein großes Potential für Veränderung in sich trägt.

AIKIDO THERAPIE
  • Gemeinsame fließende, runde Bewegungen
  • Die Energie des Partners aufnehmen und in eine Kreisbahn lenken
  • Fließende, lebendige Kommunikation
  • Austausch von Ideen
  • Utilisation von verbalen und
    körpersprachlichen Signalen
  • Therapeutische Einladungen und Angebote zur Entwicklung von Lösungsszenarien
  • De – Strukturierung von einschränkenden
    Erlebnismustern und Neustrukturierung

B
E
Z
I
E
H
U
N
G
  • Wahrnehmung nach außen
  • Aufmerksamkeit mit allen Sinnen,
    vor allem visuell und kinästhetisch
  • Entspannte Offenheit
  • Kontakt halten
  • Wahrnehmung nach außen
  • Wachsamkeit mit allen Sinnen
    Pacing
  • Informationen sammeln

E
X
T
E
R
N
  • Standfestigkeit
  • Erdverbundenheit
  • Friedfertigkeit
  • Zentriertheit
    (In der eigenen Mitte ruhen)
  • Flexible Stabilität
  • Bewusstsein für die eigene Haltung
  • Selbstsicherheit
  • Eigen – Pacing
    (Guter Kontakt zu sich selbst)
  • Mit sich im Einklang sein
  • Offene Selbstwahrnehmung
  • Stabile Flexibilität
  • Verantwortung für die eigene Haltung
  • Klarheit

I
N
T
E
R
N