von Ralf Savelsberg
Ein altes indianisches Sprichwort lautet:
Ein Mensch beginnt erst vollständig zu sein, wenn er seine Vision empfangen hat.
In Erfüllung der Vision des „Großen Geistes“ war der Mensch aus körperlicher und unkörperlicher Substanz erschaffen worden.
Er war im abstrakten metaphysischen Sinn ein zusammengesetztes Wesen.
Um dem Charakter eines geistigen Wesens gerecht zu werden, mußten Menschen Visionen suchen und ihre Visionen ausleben, auch wenn das eine grundlegende Veränderung des Lebenskonzeptes bedeutete. Vision wurde zum zentralen Motiv des Lebens; sie war die Kraft, die energetisch vorantreiben und den Charakter des Menschen verändern konnte.
Und sie war Ausdruck jener Fähigkeit des Menschen, die ihn von allen anderen Lebewesen unterschied: der Fähigkeit zu träumen.
In unserer modernen Zeit ist die persönliche Beschäftigung mit der Zukunft für die meisten Menschen von ambivalenter Natur. Es gibt besorgniserregende, allerdings dem Zeitgeist entsprechende Tendenzen. Zwei davon möchte ich nachfolgend fokussieren:
Auf der einen Seite gibt es massive Zukunftsängste, die sich in den bekannten
Erscheinungsformen zeigen:
- Angst vor Arbeitslosigkeit
- Angst vor Krankheit
- Angst vor Status- und Prestigeverlust
- Angst vor dem Tod
- und vieles mehr
Diese Ängste zeigen sich im Außen und im Innen.
Wie viele Menschen sind es, die therapeutische Hilfe und Unterstützung in Anspruch nehmen, weil sie mit den inneren Bildern und Phantasien darüber, was Schlimmes passieren könnte im privaten und beruflichen Leben, und natürlich den dazugehörigen Gefühlen, nicht mehr zu Rande kommen?
Und ist es nicht auch eine Art Vision – in diesem Falle eine negative Variante – , wenn die inneren negativen Bilder vom Selbst und der Welt ein Äquivalent im Denken, Fühlen und Handeln finden.
Wir leben in einer Zeit, in der die unterschiedlichsten Ängste kompensiert werden durch den Versuch, sich nach außen hin abzusichern.
Absicherungen jeglicher Art boomen wie nie zuvor; Versicherungen, die uns vorgaukeln, Verantwortung für alle Eventualitäten des Lebens übernehmen zu können und so für ein menschliches Sicherheitsbedürfnis die Garantie zu übernehmen.
Oftmals sind es ja auch existentiell bedrohliche Situationen, die im Verlauf der damit verbundenen Lernprozesse auf schmerzhafte Weise deutlich machen, daß ein Delegieren von Verantwortung bezüglich der eigenen Lebensthemen ein Trugschluß ist.
Auf der anderen Seite wird in unserer Kultur eine positivistische Schöngläubigkeit erzeugt, unterstützt durch fleißig werbende Medien, die dazu einlädt, sich in mehr oder weniger realistischen Wunschträumereien zu ergießen.
Genährt von dem Wissen, daß innere Bilder nach Realisierung und Materialisierung drängen, werden künstliche innere Welten geschaffen, die manchmal von dem individuellen Wesen eines Menschen meilenweit entfernt sind.
Und je mehr Energie für Möchte-Gern-Phantasien aufgebracht wird, um so härter kann hinterher die Konfrontation mit der äußeren Wirklichkeit sein.
Genauso desillusionierend wird wahrscheinlich auch die Konfrontation mit dem eigenen Seelenkern sein. Und die Konsequenz, die daraus gezogen wird, bedeutet häufig,sich das Träumen zu verbieten. Wie sagt ja schon der Volksmund: Träume sind Schäume und – Träumer sind Schaumschläger.
Visionsarbeit in einem ökologisch vertretbaren Rahmen hat nichts zu tun mit Schönfärberei.
Es geht vielmehr um einen tiefgreifenden Prozeß der Selbsterkenntnis, um Achtsamkeit und Empfangsbereitschaft für die Botschaften der Seele.
Eine positiv wirksame Vision gewährt Einsicht in die Beschaffenheit des innersten Seins.
Wie kann es nun möglich sein, Visionsarbeit in einen therapeutischen Kontext sinnvoll zu integrieren? Um einen Überblick zu geben, welchen Stellenwert Visionsarbeit haben kann, möchte ich gerne die NEUROLOGISCHEN EBENEN nach Gregory Bateson und Robert Dilts zur Verdeutlichung heranziehen:
Die Logischen Ebenen
Betrachten wir uns dieses Übersichtsmodell für menschliche Lernprozesse unter dem Aspekt von Visionsarbeit, so können wir feststellen, daß positive Visionen im Sinne von kraftvollen Leitideen zur Gestaltung der eigenen Zukunft die beiden höchsten logischen Ebenen ZUGEHÖRIGKEIT und IDENTITÄT miteinander verbinden.
Es ist sogar so, daß Informationen aus beiden Ebenen in der metaphorischen und symbolischen Gestalt der Vision miteinander verschmelzen. Sowohl die individuellen Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und Erfüllung, als auch die sozialen Bedürfnisse nach gegenseitiger Achtung, Austausch und dem Gefühl des Zugehörigseins sind integriert.
In diesem Zusammenhang meint Vision ein visuelles Konzept zur Entfaltung der Persönlichkeit im Einklang mit den sozialen und systemischen Gegebenheiten.
Es macht also wenig Sinn, wenn ein Mensch eine Vision entwirft, die seine egoistischen Ziele, aber keinerlei soziale „Verträglichkeitsüberprüfung“ beinhaltet.In sofern spreche ich gerne von ökologisch und systemisch vertretbaren Visionen.
Sinnvolle und ökologisch vertretbare Visionen verdeutlichen und beinhalten in bildhafter Form, die höchsten WERTE eines Menschen; d.h. all das, was einem Menschen wichtig ist im Leben, ist in komprimierter Version enthalten.
Sinnvolle Visionen, genährt aus der Stärke von Identität und Zugehörigkeit, schaffen positive ÜBERZEUGUNGEN über sich selbst und die Welt und helfen, limitierende Überzeugungen ressourcevoll zu bearbeiten und Lösungen zu realisieren.
Innere Stärke bedeutet auch die Wahrnehmung und das Erleben der eigenen Kompetenz.
Der Zugang zu inneren Potentialen eröffnet eine Palette von Wahlmöglichkeiten zur Verwirklichung der vorhandenen FÄHIGKEITEN.
Visionsinspirierte Menschen tun das für sie selbst und für ihre UMGEBUNG „Richtige“.
Vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten werden genutzt im Sinne einer kongruent fließenden Kommunikation mit sich selbst und anderen (VERHALTEN)
Der Mensch entfaltet sein Selbst dadurch, daß er es zu sich selbst, zu anderen Menschen und zur Natur in Beziehung setzt. Visionen als Wegweiser für Persönlichkeitsentwicklung bieten eine wichtige Grundlage für Veränderungsarbeit.
Denn was nutzt es, Konflikte jedweder Art zu bearbeiten, wenn eine positive Perspektive und die Sinngebung einer Lösung fehlt.Allerdings braucht es eine grundlegende Bereitschaft der Öffnung und Akzeptanz dessen, was das Unbewußte in Form einer umfassenden Metaphorik und Symbolik mitteilt.
Du brauchst Vertrauen in deine Kraft, um deine Vision zu entdecken und sie anzunehmen.
Und du brauchst Achtsamkeit, um zu deiner Kraft kommen.
Und die Vision wird deine Achtsamkeit und deine Kraft vergrößern.
Kitche Manitu (Der Große Geist) hatte eine Vision. In diesem Traum sah er einen weiten, mit Sternen, Sonne, Mond und Erde gefüllten Himmel. Er sah eine Erde aus Bergen und Tälern, Inseln und Seen, weiten Flächen und Wäldern.
Er sah Bäume und Blumen, Gräser und Früchte. Er sah laufende, fliegende, schwimmende und kriechende Wesen. Er wurde Zeuge der Geburt, des Wachstums und des Todes der Dinge. Zugleich sah er anderes weiterleben.
Mitten im Wandel gab es Bleibendes. Kitche Manitu hörte Gesänge, Klagen,
Geschichten. Er berührte Wind und Regen. Er fühlte Liebe und Haß, Angst und Mut, Freude und Traurigkeit.
Kitche Manitu meditierte, um diese Vision zu verstehen.
Aus “ Mythen und Visionen der Ojibwa“ von Basil Johnston