Übertragung

und Gegenübertragung aus konstruktivistischer Sicht

von Ralf Savelsberg

In der psychoanalytischen Lehre wird „Übertragung“ traditionell gesehen als die Verlagerung von Impulsen/Regungen/Gefühlen, die der Klient in früheren Beziehungen zu emotional wichtigen Bezugspersonen gelernt hat, auf den Therapeuten.
„Übertragung“ wurde von Freud ursprünglich gleichgesetzt mit „Affektverschiebung“: das impliziert die Vorstellung, dass der Klient unbewusst die Affekte, die er z.B. in Beziehung zu seinem Vater gelernt hat, auf den Therapeuten verschiebt.

Die „verdrängte Kindheitsneurose“ wird in diesem Denken als „Übertragungsneurose“, also unter dem Einfluss eines „Wiederholungszwanges“, in der therapeutischen Beziehung aktualisiert.

Dieser Widerhall früher gelernter Beziehungsmuster ruft seinerseits ein Echo im Therapeuten hervor, genannt „Gegenübertragung“.
Als „Gegenübertragung“ wird die emotionale Reaktion des Therapeuten auf die „Übertragung“ des Klienten bezeichnet.
Paula Heimann ging sogar davon aus, dass „Gegenübertragung“ alle Gefühle umfasse, die der Therapeut in der Beziehung zum Klienten erlebt.

Ursprünglich wurde „Gegenübertragung“ vom Therapeuten zum Klienten als etwas angesehen,
das den Therapieverlauf stört und negativ beeinflusst.
Infolgedessen war die Vermeidung von emotionalen Reaktionen die gängige Lehrmeinung.
Dem Therapeuten wurde die Funktion eines „leeren Spiegels“ zugeschrieben
– in dem sich die verzerrten (weil übertragenen) Gefühle des Klienten abzeichneten –
und er hatte peinlichst genau darauf zu achten, jede emotionale Reaktion in sich auszumerzen.
Hätte er emotional reagiert, so hätte er im Verdacht gestanden, auf die Übertragungen des Klienten unbewusst reagiert zu haben. Und das wurde als Fehler gewertet.

 Das Modell von „Übertragung und Gegenübertragung“ impliziert eine in starkem Maße sezierend – kontrollierende Haltung des Therapeuten und gibt Aufschluss auf eine spezifische, eher fehler- und pathologie- orientierte Sicht der therapeutischen Beziehung.
Das Modell gründet zudem in einer Zeit, in der man davon ausging, dass der Therapeut eine objektive, eine von außen beobachtende, abstinent neutrale Position einzunehmen hat.

Heute und nicht zuletzt aufgrund der Erkenntnisse von Gregory Bateson und der Konstruktivisten geht man von anderen Prämissen aus.
Man weiß, dass ein Therapeut immer auch Teil des Therapiekontextes bzw. des therapeutischen Systems ist.
Der Therapeut ist mit seiner eigenen Biographie, mit all seinen Erfahrungen, seinen Gedanken, Gefühlen und mit seinen Erkenntnismöglichkeiten anwesend.

Die Annahme, dass es eine objektive Wirklichkeit gibt, die von außen zu beobachten wäre,
ist philosophisch und wissenschaftlich nicht haltbar. Gerade in sozialen Kontexten schafft die persönliche Bewertung und Bedeutungsgebung eine subjektive Wirklichkeit. Insofern ist der Therapeut selbstverständlich aktiv an den „Konstruktionen der Wirklichkeit“ beteiligt.

 Einer der Mitbegründer konstruktivistischer Ideen, Heinz von Förster (Professor für Informatik, Biophysik, Physiologie) hat sehr treffend einfach formuliert:

Es ist doch ein unglaubliches Wunder, das hier stattfindet.
Wenn man nur für einen Moment sagt:
Das bist du, der diese Sicht der Welt produziert, das ist nicht draußen, das ist nicht irgendeine sogenannte objektive Wirklichkeit, auf die man sich beziehen kann.
Man kann nicht mehr andere verantwortlich machen für das, was man sieht, denn man ist ja selbst derjenige, der diese Sicht konstruiert.
Die Menschen erhalten ihre Verantwortung in größtmöglichem Maße wieder zurück, können sie nicht an irgendeine übergeordnete Instanz oder irgendwelche äußeren Umstände abschieben. Sie werden Beteiligte.

In diesem neuen Verständnis ist der Therapeut ein Beteiligter – und das hat nachhaltigen Einfluss auf die Art der Gestaltung der therapeutischen Beziehung.

Ich plädiere dafür, die therapeutische Beziehung als eine partnerschaftliche Kooperation zu sehen,
bei der jede beteiligte Person eine spezifische Verantwortung trägt:

  • Der Klient trägt die Verantwortung für sich selbst und für sein Thema, mit dem er in Therapie gekommen ist.
  • Der Therapeut trägt die Verantwortung für sich selbst und für seine Interventionsangebote und unterstützt den Klienten darin, eigenverantwortlich sinnvolle Lösungskonzepte zu entwickeln.

Eine logische Konsequenz aus dieser Sicht ist, dass der Klient innerhalb einer kooperativen therapeutischen Beziehung lernt, mehr und mehr in eigene Kompetenzen zu vertrauen, sein Selbstbewusstsein und seinen Selbstwert weiter zu entwickeln und selbständig Lösungen zu entwickeln.

Um einen Kontrast zu schaffen, möchte ich kurz auf eine weniger kooperative Art der Beziehungsgestaltung zu sprechen kommen.
Die Beziehungsstruktur entspricht in etwa einem Arzt – Patienten – Verhältnis.
Auf die Aufforderung des Klienten Sagen Sie mir, was genau mein Problem ist, wo es herkommt und lösen Sie es !  reagiert der Therapeut, indem er die Verantwortung für Diagnostik, Ursachenforschung und Problemlösung übernimmt.

Im Extremfall wird dadurch der Klient zu einer Konsumhaltung eingeladen und in seiner Hilflosigkeit bestätigt.
Der Therapeut seinerseits läuft Gefahr, in eine „Expertenfalle“ zu geraten,
in der er für den Klienten immer neue Zuschreibungen und Ratschläge ersinnt.
Der Klient vertraut in das Experten – Knowhow und in die diagnostische Kompetenz des Therapeuten und delegiert jegliche Verantwortung.
Er ist, um es mal so zu formulieren, den Diagnosen und Ratschlägen des Therapeuten „ausgeliefert“. Kann er die Ratschläge des Therapeuten nicht annehmen oder nicht umsetzen, wird häufig die Therapie beendet. Der Therapeut verliert seine Kompetenz.

In meiner eigenen therapeutischen Praxis häufen sich in den letzten Jahren die Fälle, bei denen Klienten schildern, über Jahre in psychoanalytischer Therapie gewesen zu sein und dass die therapeutische Beziehung mittlerweile als vorherrschendes Problem wahrgenommen wird.
Es ist ja auch kein Wunder: wenn ein Klient (und ich hab mehrere dieser Fälle) über 5 oder 7 Jahre zweimal die Woche in Therapie geht, so liegt der Verdacht nahe, dass da ein Abhängigkeits- Verhältnis entsteht, bei dem alle Varianten von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen im klassischen Sinne zu tragen kommen.

Und die Frage sei erlaubt, inwieweit Übertragungsphänomene nicht an sich schon gefördert werden, indem die „Hilfsbedürftigkeit“ des Klienten in eine therapeutische Beziehung hineingetragen wird, die durch ein Autoritätsgefälle (wie im Arzt – Patienten – Verhältnis) charakterisiert ist.
Ist das nicht schon an sich eine Einladung an den Klienten, in eine kindliche Position zu regredieren,
den Therapeuten als Vater- oder Mutterfigur o.a. zu sehen und die im Herkunftssystem gelernten Gefühle zu übertragen …?
Und ist es nicht angesichts einer solch direktiven und hierarchischen Beziehungsstruktur allzu logisch, wenn der Therapeut sich eingeladen fühlt, auf die Hilfsbedürftigkeit des Klienten väterlich oder mütterlich zu reagieren …?

 Eine kooperative therapeutische Beziehung impliziert ein partnerschaftliches Miteinander,
bei dem sehr klar differenzierend mit der Frage der Verantwortung umgegangen wird.

Und mal angenommen, es gäbe so etwas wie „Übertragung“,
wäre es nicht sinnvoll, das als Beziehungsangebot des Klienten wahrzunehmen und für den therapeutischen Prozess zu nutzen ?
Und wäre es nicht sinnvoll, die Beziehungsangebote aufmerksam wahrzunehmen und angemessen und authentisch darauf zu reagieren ?
Wenn man schon mit diesen Begriffen (Übertragung, Gegenübertragung) jongliert, wäre eine positive Konnotation angebracht.

Als Therapeut will ich auf Beziehungsangebote meiner Klienten reagieren.
Und da, wo vom Klienten übertragene Gefühle auf einen Herkunftskontext hindeuten, sind sie doch ein wichtiges Signal, gelernte Beziehungsstrukturen und deren Entstehungszusammenhänge zu erkennen und zu verstehen.

Ich hab gute Erfahrungen damit gemacht, immer mal wieder auf die Meta – Ebene zu gehen und auch meine Klienten dorthin einzuladen. Aus einer beobachtenden, distanzierten Position lassen sich spezifische Kommunikations- und Interaktionsmuster gut anschauen.

Im Vordergrund meiner eigenen therapeutischen Haltung steht weniger die Frage, wie ich Gegenübertragungen vermeiden kann, sondern eher die Frage, wie ich authentisch und professionell, gewissenhaft reflektierend und flexibel einen Arbeitsauftrag
erfüllen kann, der sich an der eigenen ethischen Grundhaltung und an den Aufträgen
(die es selbstverständlich zu hinterfragen gilt)
und Zielen der Klienten orientiert. Es geht darum, passende Konzepte anzubieten,
die für den therapeutischen Prozess förderlich und für einen Lösungsbezug hilfreich sind.

Einer meiner Lehrer hat einmal sinngemäß formuliert:

Jeder therapeutische Prozess ist ein gemeinsamer Tanz, bei dem Klient und Therapeut gleichermaßen beteiligt sind.

Dass beide ein großes Repertoire an Möglichkeiten haben, diesen Tanz vielfältig zu gestalten, davon gehe ich aus. Und inwieweit zum Selbstverständnis eines Therapeuten gehört, mal mehr oder weniger emphatisch zu sein, mal mehr oder weniger berührt zu sein, mal mehr oder weniger distanziert zu sein, usw., das bleibt jedem selbst überlassen.

Lesen Sie auch: „Plädoyer für eine Neuorientierung in der Psychotherapie